Kognitive Dissonanz der Impfenden? Blickwechsel

Als Beraterin werde ich häufig für die Lösung von Konflikten konsultiert. In den -getrennten- Vorgesprächen nehmen die Beteiligten die Konfliktsituation sehr unterschiedlich wahr. Manchmal könnte man meinen, es handle sich um verschiedene Sachverhalte! Als ob sich die Parteien an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten befänden, über die sie im Streit liegen.

Meine Aufgabe als Beraterin ist es, die Sichtweisen zu hören, sie den Beteiligten wider zuspiegeln und mit ihnen gemeinsam Wege zur Lösung zu finden. Dazu gehört, ihre Wahrnehmung zu erfragen und ihre dahinter liegenden Motivationen zu erkunden. Diese beruhen auf sehr unterschiedlichen Wirklichkeitserfahrungen, Interessenlagen, Emotionen und zugrunde liegenden Bedürfnissen. Arbeiten die Parteien dies mit meiner Unterstützung heraus, entstehen oft tiefe Momente des „Aha“. Das, wovon der eine ausgeht, ist in der Wirklichkeitserfahrung des anderen häufig gar nicht vorhanden. Staunen und Verständnis werden möglich. „Aha, so siehst du das. Darauf wäre ich nie gekommen…“ Die Parteien begegnen sich in einem neuen Raum, jenseits der Konzepte, an denen man verzweifelt glaubte festhalten zu müssen. Lösungsideen entstehen, Miteinander und gemeinsame Zukunftsabsprachen werden möglich.

Alexander Zinn hat in seinem Beitrag „Zwischenruf eines Geimpften“ so einen Raum für die Impfbefürwortenden und die Impfskeptischen geöffnet. Er erinnert an das Phänomen der kognitiven Dissonanz. Diese ist eine Methode des Gehirns, durch Begründungskonstruktionen mit aller Macht an der Richtigkeit der eigenen Überzeugung festzuhalten, auch wenn ihr die Wirklichkeitserfahrung widerspricht. So funktioniert das Gehirn. Es versucht sich zu rechtfertigen und die eigene Sicht als richtig darzustellen, koste es, was es wolle. In der Ökonomie gibt es die „sunk-cost fallacy“: Man hält an der Entscheidung fest, weil schon so viel Geld, Energie und Zeit hineingeflossen ist, auch wenn sie sich rational als falsch herausstellt.

Die Heilsprophezeiungen der doppelten Impfung durch einen notzugelassenen Impfstoff von Freiheit, Ende der Pandemie, keine Erkrankung an Corona haben sich nicht erfüllt. Trotzdem soll weiter geimpft werden. Doch die Argumente der Nicht-Impfwilligen gewinnen an Fahrt. Zu viele Fragen sind offen, Fragen, die verborgen wurden. Alexander Zinn stellt sie in seinem Essai. Er, selbst geimpft, leidet an den Folgen der Impfung und ist dadurch skeptisch geworden. Mit seinem geschulten soziologischen Blick auf Ausgrenzung und In-Group/Out-Group Phänomene fragt er, ob wir wirklich vernünftig im Sinne der Kantschen Aufklärung handeln, wenn wir Nicht-Geimpfte zum Sündenbock der Pandemie erklären. Ist das wirklich so einfach? Als Historiker blickt Zinn auf die Diskussion zu Beginn der AIDS-Krise, als Schwule beinahe diese Rolle zugeschrieben bekommen hätten. Die damalige Gesundheitsministerin Rita Süssmuth setzte sich für einen eigenverantwortlichen Gesundheitsschutz ein und trat den Verfechtenden radikaler Lösungen mutig entgegen, schreibt er.

Nachdenklich überlegt Zinn: Sind wirklich alle Impf-Skeptiker:innen, unter ihnen namhafte Wissenschaftler:innen und erfahrene Praktiker:innen aus Virologie, Epidemologie, Psychoneuroimmunologie, Sozialpsychologie und Verfassungsrecht Schwurblende und Idioten? „Skepsis, Zweifel und Widerspruch [sind] die Fundamente von Aufklärung, Wissenschaft und Fortschritt“, so Zinn. Es ist schwer, dem zu widersprechen.

Er erinnert auch an die Resolution des Europarats v. 27.1.2021, der die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu aufruft, dass „niemand unter politischem, sozialem oder sonstigem Druck steht, sich impfen zu lassen, wenn sie dies nicht wünschen; …sicher[zu]stellen, dass niemand wegen Nicht-Impfung, möglicher Gesundheitsrisiken oder Nicht-Impfwunsch diskriminiert wird.“

Haben wir das wirklich alles vergessen? Ist der Europarat ein Halli-Galli Gremium, das ohne Sinn und Verstand Impfskeptikern das Wort redet? Oder geht es um grundsätzliche Werte, Fundamente unserer Demokratie und unseres Selbstverständnisses, die uns, temporär kognitiv dissonant, aus dem Blick geraten sind?

Es gibt viele offene inhaltliche Fragen, die sich im Konflikt zwischen Impf-Befürwortenden und nicht Impfwilligen stellen, und vieles, was zwischen den beiden Parteien bislang unerkundet geblieben ist.

Was folgt daraus? Zunächst, dass Impf-Befürwortende und Impf-Skeptische einander zuhören und ihre tieferliegenden Motivationen, Emotionen und Bedürfnisse miteinander teilen. Voraussetzung dafür ist das Gespräch auf Augenhöhe. Nicht Impfwillige müssen in ihrer Haltung respektiert werden. Menschen für eine vertretbare Haltung aus dem gesellschaftlichen Leben zu isolieren, sie zu diskriminieren und zu Sündenböcken zu machen, das ist einem aufgeklärten Umgang mit Konflikten unangemessen. Hilfreicher könnte als Ausgangshaltung sein: Jede Partei hat gute Gründe für ihre Position und beide sind bereit, die Motivation und Bedürfnislage wechselseitig mit aufrichtigem Interesse zu erkunden und nach einer gemeinsamen für alle tragbaren Lösung zu suchen.

Aus beraterischer Sicht hinzufügen möchte ich: Es ist erlaubt, sich zu irren, es ist erlaubt, über das Ziel hinauszuschießen. Es ist auch erlaubt, Fehler einzugestehen, dadurch lernen wir. Deshalb ist es auch Politiker:innen zugestanden, ihre Sicht zu revidieren und dabei das Gesicht zu wahren, gerade in einer Krisensituation mit sich ständig wandelnden Parametern. Es wäre zu wünschen, dass die Medien dies freundlich behandeln, wenn es dazu kommt.

Der Berliner Zeitung gebührt die Ehre, den Mut zur Veröffentlichung des Artikels zu haben. Etwas schade ist, dass sie sich im Vorwort durch die Erläuterung: „Dieser Text ist ein Debattenbeitrag. Er spiegelt nicht die Meinung der Redaktion wider“ von der Sicht des Autors, der vor allem Fragen stellt, meint, ausdrücklich distanzieren zu müssen. Doch gibt die Veröffentlichung die Hoffnung, dass neue Wege im Umgang mit dem Konflikt möglich sind.

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